Abels Blut
Dietrich Alsdorf

Leseprobe

„Wer den Alten totschlüge, der begeht keine Sünde. Und wenn da einer wäre, der denselben totschlagen wolle, so wolle er demselben eine blanke Pistole* geben."

Claus über seinen Vater im Januar 1833.
(* Damals gängige Floskel; entspricht der Summe von 15 Talern.)



Prolog

Der 7. August 1816 war ein Mittwoch und der bislang wärmste Tag des Monats. Die Luft flimmerte über dem wilden Kehdinger Moor, als Abel mit ihren drei Jungen auf dem Damm zu den Torfstichen ging. Mühsam schob sie die schwere Karre aus Eichenholz. Abel war seit Monaten krank und schwach. Müde wirkten ihre Schritte. Wie die einer alten Frau. Doch die jüngste Tochter der Böschs, einer der alteingesessenen Familien im Bützflether Moor, war erst dreißig Jahre alt. Abel plagte tiefe Trauer. Zwei ihrer Kinder waren ihr in diesem so unendlich leidvollen Jahr gestorben. Im Januar die erst einen Monat alte Anne. Dann vor neun Tagen ihre dreieinhalbjährige Tochter Stine. Seitdem hatte sie unablässig geweint und ihren Gemahl angefleht, sie tagsüber von der harten Landarbeit zu verschonen.

Denn nicht nur in ihrer Seele wühlte ein Schmerz, auch ihren Leib schien es zu zerreißen. Eine unerklärliche Krankheit hatte sie befallen und verzehrte einem Feuer gleich ihren einst so makellosen Körper. Aschfahl war ihr schmales Gesicht geworden und ihre großen blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Dunkel umrahmt, wie ein Abbild des Gevatters, den sie bereits auf dem Dachboden des Hofes zu hören glaubte.

„Bitte lass mich im Haus, die Schmerzen machen mich irre", bat Abel.

„Ins Moor mit dir, Weib!", brüllte ihr angetrauter Ehemann Cord, Bauer auf der Meyer-Wurt. So war es die Art des Vaters, so kannten ihn seine Söhne. Warum er die Mutter so schlecht behandelte, wussten sie nicht. Und sollte einer von ihnen versuchen, der geschundenen Mutter beizustehen, wie es vor einigen Tagen Simon, der Älteste, versucht hatte, riskierte er Prügel.

Der fast sechsjährige Claus, der dem Streit der Eltern still beigewohnt hatte, wollte es gar nicht erst darauf ankommen lassen. Denn ihn hatte der Vater noch nie geschlagen. Er hatte sich aber auch nie getraut, ihm in den Arm zu fallen, wenn er einmal wieder seine Hand gegen die Mutter erhob. Und er würde es auch nie wagen. Das geschwollene Gesicht Simons war ihm Warnung genug.

Während seine älteren Brüder Simon und Hinrich mit gesenkten Köpfen barfuss hinter der Mutter gingen, blieb Claus etwas zurück, um am Wegesrand der Mutter zum Trost einen Heidestrauß zu pflücken. Während in einiger Entfernung im Torfstich seine Brüder der Mutter dabei halfen, getrocknete Soden auf die Karre zu stapeln, lag er im hohen Gras und schaute träumend in den blauen Himmel, der von weißen Schäfchenwolken verziert war. Bussarde zogen darunter ihre Kreise über dem weiten Moor und noch höher, fast unsichtbar, sang eine Lerche.

Claus liebte die Abgeschiedenheit des Moores. Liebte das Summen der Immen und den Gesang der Lerchen. Hier konnte er fernab des Hofes mit dem dort vorherrschenden Unfrieden von seiner Zukunft träumen, die er auf stolzen Schiffen auf den Meeren sah. So wie sein Vater, der über viele Jahre auf Walfängern gedient hatte. Stundenlang konnte Claus den abenteuerlichen Geschichten lauschen, die der Vater zuweilen abends am Herdfeuer erzählte. Und wenn Claus sich gut betrug, durfte er sogar auf dessen Schoß sitzen und sein Vater strich ihm durch das blonde Haar.

„Wirst einmal Walfänger wie ich und fährst auch zur See", sagte er dabei und Claus übersah, wie feindselig ihn dabei seine Brüder ansahen. Und ihre Eifersucht immer dann an ihrem jüngsten Bruder ausließen, wenn der Vater einmal nicht in der Nähe war. Das kam in der letzten Zeit immer häufiger vor und Claus fragte sich, was den Vater vom Hof zog und warum er sein Tagwerk vernachlässigte.

Claus erhob sich, um nach seiner Mutter zu sehen. Er hatte bei seinen Tagträumen die Zeit vergessen. Längst hätte sie an ihm vorbei gehen müssen, um den Torf auf dem Hof abzuladen. Er sprang über den Entwässerungsgraben und erklomm den Damm. Besorgt sah er sich um. Der Damm war leer. Doch was war das? Im Schatten der den Weg säumenden Birken ragte etwas Weißes aus dem Gras.

Claus lief so schnell es seine nackten Füße erlaubten. Die Mutter lag auf dem Weg, ihre Karre mit den Torfsoden war in den Graben gestürzt. Sie hatte ihre unförmige Sommerhaube verloren, deren leuchtendes Weiß ihm den Weg gewiesen hatte.
„Mudder!", schrie Claus und beugte sich über den leblosen Körper. Die Mutter stöhnte leise, als er sie zu schütteln begann.

Abel öffnete langsam die Augen. „Claus, mien Lütten", hörte er und spürte ihre eiskalte Hand an seinem Unterarm. „Schön, dass du da bist. Bitte lass mich nicht allein. Bleib bei mir, bis der Allmächtige ..."

Sie ließ sich zurück auf den Boden sinken und rang mühsam nach Luft. Sie hielt beide Hände krampfhaft vor den Bauch. Abel musste große Schmerzen haben.

„Mudder, ich hole Hilfe!", rief Claus und die Tränen liefen ihm über die Wangen.

„Nein, ... bleib hier", flüsterte die Mutter. Claus sah mit Bestürzung, wie ihr Gesicht immer schmaler wurde, ihre Wangen seltsam einfielen. Als hätte der körperliche Verfall schon eingesetzt, bevor die Seele aus dem Körper gewichen war.

Mudder, ich laufe zum Hof, ich hole Vadder!"

„Nein, nein - nicht Vadder!" Abel richtete sich etwas auf und Claus schob ihr den Heidekranz unter den Kopf, den er ihr eigentlich hatte schenken wollen.

„Ich habe Durst ... das Feuer im Leib ..." Sie schluchzte laut auf.

„Ich hole Wasser", versprach Claus und stieg hinab in den Moorgraben, der den Damm säumte. Sich mit der einen Hand an einem Birkenzweig haltend, schöpfte er mit der anderen braunes Moorwasser. Doch als er am steilen Hang auf den Weg zurück klettern wollte, verlor er das wenige, das er in seiner Kinderhand zu halten vermochte.

Weinend kniete er wieder bei der Mutter und strich ihr mit den nassen Fingern über die Lippen.

„Oh, mein Gott...", flüsterte sie und ihre Tränen rannen ins Gras. „Die Schmerzen fressen mich auf. Zerreißen mir den Leib."

Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Claus riss sich sein verschwitztes Hemd vom Leib. Behutsam tupfte er der Mutter mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht.

„Guter Junge ...", flüsterte sie und versuchte zu lächeln, „du bist ein guter Junge, oh mein Gott ... und ich muss nun für immer gehen und kann nicht mehr auf dich aufpassen ..."

Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht. Claus spürte ihre Totenhand auf seinem Arm.

„Ich muss auf dich aufpassen, Claus, hörst du mich? Uns Vadder, er ist nicht gut für dich. Hörst du, Claus? Höre nicht auf ihn. Gehe zu meinen Brüdern. Zu Peter oder Jacob. Sie sollen dich aufnehmen, dich zu einem rechtschaffenen Menschen aufziehen. Das ist mein letzter Wille."

Kraftlos ließ sie sich ins Gras zurückfallen. Mit Entsetzen sah Claus, wie sie ihre von Narben übersäten Hände faltete und ihre Lippen leise Worte formten:

„O Gott, du Vater aller Gnade und Barmherzigkeit. Erbarme dich über mich, dein armes Geschöpf, um Christi Willen. Lass mich, deine Dienerin, in Frieden fahren ..."

Claus schrie auf und lief zurück zum Hof. So schnell ihn die Füße trugen.

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