BRAND MARKEN
Wolfgang Röhl
Leseprobe
EINE ABSICHTSERKLÄRUNG
Es gibt viele Möglichkeiten, sich umzubringen, aber ich habe immer nur die eine
in Betracht gezogen. Den Schuss ins Herz, aufgesetzt. Die richtige Stelle werde
ich auf der Brust ertasten. Besser noch, mittels eines Medizinbuchs aufspüren
(das Herz, hat mir mal jemand erklärt, liegt weiter zur Brustmitte hin als man
denkt). Die Lage eventuell mit einem Filzstift markieren. Meine Waffe wird eine
mehr als ausreichende Stärke haben. Also kein Kaliber .22, schon gar nicht 6,35
mm. Selbst eine 7,65er, früher ein gängiges Polizeikaliber, wäre mir zu riskant.
Es muss eine sichere Sache sein.
Andererseits werde ich auch keine großkalibrige Waffe benutzen, wie eine .44er
Magnum. Warum nicht? Weil ich Waffen mit einem gewaltigen Rückstoß nicht traue.
Was, wenn die enorme Druckwelle, die zwischen der Mündung der Waffe und der
Brust entsteht, den Lauf verreißt und die Richtung der Kugel in der
entscheidenden Nanosekunde ablenkt? Ich wäre dann womöglich nicht tot, nur
schwer verwundet. Müsste stundenlang Qualen erleiden, bis es zu Ende wäre. Oder
aber ich würde gerettet werden und müsste den Rest des Lebens in einem Rollstuhl
verbringen. Wahrscheinlich hätte ich nie wieder den Mut, noch mal abzudrücken.
Oder gar keine Möglichkeit mehr, mir eine Waffe zu verschaffen. Ich würde
vielleicht noch viele Jahre dahindämmern, eingesperrt in das Gefängnis meines
Körpers, lebendig begraben.
Das nicht. Niemals.
Ich werde mir einen Revolver des Kalibers .38 special, was 9 mm entspricht,
besorgen. Am besten eine stummelläufige Version, die man gut gegen sich selbst
richten kann. Außerdem werde ich eine Patrone mit Vollmantelgeschoss abfeuern.
Warum? Weil ein Bleigeschoss sich beim Durchschlagen des Körpers verformt und
einen großen, hässlichen Ausschuss verursacht, aus dem literweise Blut strömen
kann. Ferner können dadurch Teile von Innereien, Knochensplitter oder Ähnliches
in die Umgebung der Stelle spritzen, an der man sich erschießt. So eine
Schweinerei möchte ich niemandem zumuten.
Ich gehörte nie zu denen, die Hemingway für seinen Mut bewundern, ein Ende mit seinem Leben zu machen, als er es nicht mehr wie gewohnt führen konnte. Im Gegenteil, ich habe ihn dafür verachtet, von der Methode her gesehen. Sich den Kopf in seinem eigenen Haus wegblasen, während oben die Frau schläft! Und dann noch mit einer Schrotflinte! Ekelhaft.
Die Idee mit dem Brustschuss ist mir als junger Mann gekommen. Ich habe da im Kino „Das Irrlicht“ von Louis Malle gesehen. Ein ziemlich exaltiertes, expressionistisches Werk, heute kaum noch anschaubar. Jedenfalls geht es da um einen Mann aus gutem Haus, der das Leben satt hat, aus vielen Gründen. Er begibt sich noch einmal unter Menschen. Versucht herauszufinden, ob ihn irgendjemand davon abhalten könnte, Schluss zu machen. Findet aber niemand, schiebt am Ende des Films sein Hemd hoch und gibt sich mit einer Armeepistole die Kugel. Den Schuss hört man, glaube ich, im Film gar nicht.
Was mich betrifft, so werde ich solch einen letzten Versuch nicht unternehmen, wenn es so weit ist.
Fragment eines Schreibens, gefunden bei einer Hausdurchsuchung. Kein Datum, keine Unterschrift, nicht adressiert.
Kapitel 1
Als ich den Feuerschein bemerkte, war es wahrscheinlich schon zu spät. Zu spät für ihn. Die Leichenreste, die sie in einem ausgebrannten Anbau des Stalles fanden, hatten zu einem Mann gehört. Wenigstens das ergaben die forensischen Untersuchungen. Wer er war, wurde nie geklärt. Das Feuer hatte seinen Körper fast völlig verzehrt. In unserer Gegend wurde niemand vermisst. Ein Illegaler, aus Osteuropa vielleicht?
Mir hat man keine Vorwürfe gemacht. Natürlich nicht. Ich hatte alles
versucht, was in meiner Macht stand. Viel war es nicht, zugegeben. Aber verdammt
nochmal, an diesem Abend kam auch wirklich alles zusammen, was nicht hätte
zusammenkommen dürfen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, wie man so sagt.
Jedenfalls nahmen die Ermittler das anfangs an.
Ich weiß noch, es war warm. Juli. Es roch intensiv nach Heu, ich erinnere mich
genau daran. Die beiden letzten Wochen hatte es nicht einen Tropfen geregnet,
ein kleines Wunder im Nassen Dreieck, wie sie die manchmal regelrecht
abgesoffene Region hier oben nennen. Die Bauern hatten gemäht und gewendet.
Demnächst würden sie das Heu einbringen. Ja, es roch köstlich. Es roch nach
Kindheit. Ich bin auf dem Land aufgewachsen.
Ich ging zum Geräteschuppen und zog die Flügeltüren auf. Da stand sie, zwischen Rasenmähern, Sägen, Harken, Rechen, Sprühdruckbehältern und anderem Zeug, das man braucht, um der Natur Schranken zu setzen. Sie ist ja mitnichten ein gütiges Mütterlein, die Natur. Das glauben nur harmlose Gemüter, die vorzugsweise in der Stadt nisten. Eine aggressive Domina ist sie, unsere Natur! Man muss ihr unentwegt die scharfe Kante zeigen, sonst überwuchert sie einen.
Meine Maschine blitzte im Schein der staubigen Schuppenlaterne, als käme sie
geradewegs aus der Fabrik. Die Yamaha 500 SR ist ein moderner Klassiker, wie es
in Motorradzeitschriften heißt. Sie ähnelt ein wenig den englischen Maschinen
der Nachkriegszeit, wurde in Japan ab den 1970ern bis zu den frühen 1990ern fast
unverändert gebaut. Sie enthält viele hübsche Chromteile, aber keinen
Elektrostarter. Das schützt sie bis zu einem gewissen Grad vor Dieben. Wer kann
heutzutage noch ein Motorrad antreten?
Kenner nennen die SR einen Eintopf, weil sie mit nur einem Zylinder auskommt.
Mit der SR fuhr ich meistens Kurzstrecken, zum Brötchenholen ins Dorf oder so.
Ich hatte mir das Exemplar vor Jahren zugelegt. Eine unglaublich gepflegte
Okkasion aus der Hand eines Kollegen, der sich zu alt für ein Zweirad fühlte.
Dass mich das stolze Stück auf die Spur von Verbrechen bringen sollte, von
ziemlich bizarren Verbrechen sogar, das stand nicht in ihren Papieren.
Die Fahrt längs des kurvenreichen Deiches war ein Genuss. Die Dämmerung hatte
eingesetzt, würde sich aber lange hinziehen. Hochsommer. And the livin’ is easy.
Als ich von der Deichstraße abbog und durch Maiswüsten und Weizenfelder in
Richtung Badesee fuhr, meinte ich plötzlich, noch einen anderen Geruch zu
schnuppern. Man riecht ja viel mehr auf einem Zweirad als im Blechkäfig eines
Autos. Man spürt auch intensiv das Auf und Ab der Temperaturen – Wärmewellen aus
Weizenfeldern, kühle Brisen, wenn man ein Waldstück durchfährt.
Was ich jetzt in der Nase hatte, war Brandgeruch.
Sonderbar. In weitem Umkreis gab es kein Dorf, keine Siedlung, keine Gehöfte,
nicht mal Einzelhäuser. Ich zog die Maschine in eine Linkskurve. An deren Ende
führte ein Feldweg ab zu einer langgestreckten Stallung, an deren Vorderfront
ein hohes Futtersilo stand. Ich bremste und schaute zu der Stallung hinüber.
Kein Fahrzeug stand davor.
Der Brandgeruch war jetzt intensiver zu spüren.
Und dann sah ich es. Da war ein Flackern im hinteren Teil der Stallung. Das
Flackern schien aus den Lichtluken auf, die im flachen Dach eingelassen waren.
Ich fuhr zum Stall, so schnell es der Feldweg zuließ. Am Stall roch es penetrant
nach Hühnerscheiße. Aha. Eine Geflügelfarm, wie Bauern ihre
Massentierhaltungsbunker verniedlichten. Oder ein Hühner-KZ, wie gewisse
Tierschützer den Holocaust zu verniedlichen pflegten.
Ich spähte durch ein halbblindes kleines Fenster in den Stall. Er war leer.
Offenbar war ein Schichtwechsel angesagt. Der alte Tierbestand war zur
Schlachtung fortgeschafft worden, die neue Ladung noch nicht da.
Der Feuerschein wurde stärker. Ich gab die 112 in mein Mobiltelefon ein und
bemerkte gleichzeitig die Anzeige am oberen linken Rand. „Kein Netz“.
Unfassbar! Man schrieb das Jahr 30 nach der Wiedervereinigung, in dem sich die
erste Landung eines Menschen auf dem Mond zum 51. Mal jährte. Aber im Nassen
Dreieck gab es immer noch Flecken, die nicht von Mobilfunknetzen abgedeckt
waren. Was selbst in den Sümpfen des polnischen Naturparks Bialowieza seit
Jahrzehnten Standard war – eine stabile, kristallklare Verbindung mit der Welt
da draußen –, hier, im Norden der wichtigsten Industrienation Europas, hatten
sie es nicht hingekriegt.
Ich kickte das Motorrad an, als gelte der Tritt einem Vertreter von Vodafone
oder Telekom und gab Gas. Ab und zu warf ich einen Blick auf das Telefondisplay.
Nach etwa fünf Kilometern erschienen zwei Punkte auf der Anzeige. Schwacher
Netzzugang.
Ich hielt an und drückte die Wahlwiederholung. 112. Es klingelte acht Mal,
bis sich jemand meldete.
Auch sehr merkwürdig. Normalerweise wurde bei der Notrufnummer sofort abgehoben.
Eine Stimme meldete sich inmitten einer Geräuschkulisse. Ich musste schreien, um
mich verständlich zu machen. Die Lage des Stalles beschrieb ich, so gut es ging.
Welche Nummer die Straße hatte, an welcher der Stall lag? Woher zum Henker
sollte ich das wissen?
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der erste Feuerwehrwagen anrückte. Da war
von dem Gebäude nichts mehr zu retten. Und der Mann hinten im Anbau, auf dessen
Existenz nichts hingewiesen hatte? War zu diesem Zeitpunkt vermutlich längst an
den Rauchgasen erstickt.
Später wurde klar, warum es solange gedauert hatte. Die nächstgelegene Feuerwehr feierte an diesem Abend, es war ein Samstag, ihren traditionellen Ball. Die Truppe, die sie vertrat, kam von ziemlich weit her. Sie hatte sich zweimal verfahren.
Wie gesagt. Eine Verkettung unglücklicher Umstände.