Der Aufhörer
Thomas B. Morgenstern

Leseprobe

Eduard Rolke war als Kind schon so unbeliebt, wie er es bis zu seinem Tod immer bleiben sollte. Jahrelang hatte Rolke kein Interesse, die Milchleistung seiner Tiere messen zu lassen, und jeder Milchkontrolleur war froh darüber gewesen. Irgendwann jedoch besann er sich anders, und so hatte Allmers ihn seit seinem ersten Arbeitstag als Milchkontrolleur in seinem Bezirk. Allmers ärgerte sich jedes Mal, wenn er zu ihm fahren musste, und versuchte ansonsten jedes weitere Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden.

Die meisten Bauern freuten sich auf den monatlichen Besuch des Milchkontrolleurs. Oft wurde der neueste Dorftratsch ausgetauscht. Die Arbeit wurde fast zur Nebensache. Bei Rolke hingegen konnte man die Luft schneiden, fand Allmers und die Hoffnung auf die sonst übliche freundliche Mithilfe war vergebens. Rolke sah meistens stumm zu, wenn sich der Milchkontrolleur durch die eng stehenden Kühe quetschen musste, um das volle gegen das leere Proberöhrchen auszutauschen. Fragen nach dem Namen der Kuh beantwortete er meistens nicht, oft schwieg Rolke während der gesamten Melkzeit oder er beantwortete Allmers Fragen so, wie man es von ihm gewohnt war: herrisch, anmaßend und hochmütig. Obwohl er zwölf, manchmal dreizehn Kühe im Stall stehen hatte, molk er sie mit nur einem Melkzeug. Die Kontrolle zog sich zu Allmers Ärger dadurch immer endlos hin.

„Wie heißt die Kuh?", fragte Allmers, als er zur Kontrolle kam. Allmers war selten in Zeitnot, bei diesem Betrieb allerdings sah er jedes Mal zu, dass er so schnell wie möglich wieder verschwand.
Heute hatte er es wie immer bei Rolke eilig und keine Lust, zwei Stunden schweigend im Stall zu stehen. Nachdem er das Proberöhrchen ausgetauscht hatte, bemerkte er ärgerlich, dass er vergessen hatte, die Ohrmarkennummer des Tieres abzulesen. Die Frage nach dem Namen der Kuh schien ihm unverfänglich.

Aber Rolke konterte sofort und nahm Allmers alle Lust, weiter zu fragen: „Den Namen habe ich dir doch letztes Mal schon gesagt", antwortete er mit seiner gedehnten, hohen Stimme. „Kannst du dir den nicht merken?"
Allmers wusste, dass er sich bei Rolke keine Blöße geben durfte. Zu schnell hatte man ein Gerichtsverfahren wegen Beleidigung oder ähnlichem am Hals. So quetschte er sich schweigend ein zweites Mal durch die eng stehenden Kühe, las die Ohrmarkennummer ab und suchte auf seiner Liste das dazupassende Tier.

Immer wieder sah er auf die Uhr, aber in diesem Betrieb verging die Zeit nur schleppend. Rolke saß auf seinem Melkschemel neben der Kuh, die er gerade molk, hielt das Melkzeug mit einer Hand und mehr als einmal schlief er bei der abendlichen Kontrolle ein. Allmers warf dann meistens eine Mistgabel oder eine Schaufel um und freute sich, wenn der Bauer von dem Lärm erschrak und aufwachte.

Als er endlich seine Sachen eingepackt hatte, seufzte er. Es war erst die Hälfte dieser sich Monat für Monat wiederholenden Qual vorbei. Am nächsten Morgen standen die nächsten beiden Stunden Milchkontrolle an.
Er beschloss, auf dem Heimweg einen kleinen Umweg zu machen und bei Wienberg einzukehren.

Wienberg war eine altertümliche Kneipe, in der es nichts zu essen gab und die Getränkekarte keine große Auswahl bot. Der Wirt hätte sich allerdings auch nicht erinnern können, wann ein Gast das letzte Mal die Getränkekarte zu sehen gewünscht hätte. In dieser Kneipe gab es Bier und Korn, für die Frauen Apfelkorn oder ein paar süße Liköre. Irgendwann verirrte sich ein Durchreisender, der von der Elbefähre kam, zu Wienberg und meinte, er würde gerne die Weinkarte sehen, welchen Wein der Wirt denn empfehlen könne?
„Weißen oder roten", war die Antwort.

Nach zwei Stunden auf den ungepolsterten Stühlen war Allmers klar, dass er jetzt besser sehr langsam nach Hause fahren musste. Dass es spät geworden war, war Allmers egal. Zu Hause erwartete ihn niemand. Seit Susannes Weggang nach Berlin hatte er keine Frau kennen gelernt, mit der er es hätte aushalten wollen.

Allmers setzte sich ins Auto und versuchte einen völlig normalen Eindruck zu machen. Die Straße, an der Wienbergs Kneipe lag, war stark befahren und die Gefahr, dass ein Streifenwagen vorbeikam, war groß. Nach mehreren Versuchen passte der Schlüssel ins Zündschloss, er startete das Auto und fuhr los.

Der neue Kreisel, der am Eingang des Dorfes erbaut worden war, war in der Bevölkerung sehr umstritten. Überall im Landkreis schossen diese Bauwerke aus dem Boden, meist dekoriert mit irgendwelchem maritim wirkenden Altmetall. In Stade gab es einen Kreisel, bei dem die Stadt sich billig verschrottete Bojen besorgt und sie schreiend bunt angemalt auf der Mitte des Kreisels entsorgt hatte. Ob das den Tatbestand der unerlaubten Lagerung von Abfall darstelle, hatte sich Allmers gefragt und beschlossen, dieses juristische Problem gelegentlich mit seinem Bruder zu besprechen.

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