Der Milchkontrolleur
Thomas B. Morgenstern
Leseprobe
Sie hatten sich mit Bedacht an diesem Tag verabredet. Obwohl das Haus einsam
stand und niemand in der Nähe war, begrüßten sie sich wie immer nur wortlos, als
ob das ganze Dorf zuhören würde. Meist liebten sie sich erst schweigend, bevor
sie leise zu reden begannen, immer in der absurden Angst, jemand könne sie
belauschen und ihr Geheimnis lüften. Die Farben, mit denen das Feuerwerk an
diesem Abend den Himmel bemalt hatte, spiegelten sich auf ihrer Haut wider. Sie
hatte in diesem Licht viel jünger ausgesehen als sie war, und er hatte sich über
ihre schnell wechselnde, bunte Bemalung amüsiert.
Nachdem sie ihn verabschiedet hatte, ging sie in ihr Badezimmer, zog sich aus,
stellte die Dusche an und stieg unter den warmen Strahl. Sie glaubte, als sie
sich abseifte, immer noch die Hände des Mannes auf ihrem Körper zu spüren. Er
war wieder sehr liebevoll gewesen, sie hatte es genossen und das warme Wasser
schien seine Liebkosungen zu wiederholen und zu verstärken. Sie duschte
ausgiebig, erst das langsam kälter werdende Wasser trieb sie aus der Dusche. Sie
griff tropfnass nach ihrem Handtuch und stutzte.
Sie überlegte kurz, ob das Geräusch an der Tür ihr bedrohlich vorkommen müsse.
Sie hielt sich sechs oder sieben Katzen, die ihr halfen, die Ratten und Mäuse im
Zaum zu halten. Wenn die Katzen ins Haus wollten, machten sie sich an den Türen
mit leichtem Kratzen bemerkbar. Sie entschied, sich das wohlige Gefühl der
Befriedigung, das den ganzen Abend durchzogen hatte, nicht verderben zu lassen
durch ein paar scharrende Katzen. Sie öffnete die Badezimmertür und versuchte,
die Katzen mit einem lauten Zischen zu vertreiben. Das Geräusch war
augenblicklich verschwunden und erleichtert putzte sich Else Weber die Zähne,
strich mit der Haarbürste einmal nachlässig durch ihr Haar und zog ihr Nachthemd
an.
Sie verließ das Badezimmer und sah erstaunt auf die gegenüberliegende Tür, die
von der Wohnung in den ehemaligen Stalltrakt des alten Bauernhauses führte. Sie
presste die Lippen zusammen, so wie sie es immer machte, wenn sie plötzlich
Angst verspürte. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Else Weber wunderte sich,
denn sie konnte sich nicht erinnern, sie geöffnet zu haben. Im Gegenteil, sie
war sich sicher, dass diese Tür geschlossen war, als sie ins Badezimmer gegangen
war.
Die Angst ist wie eine Spinne, die in der dunklen Ecke auf ihr Opfer wartet,
dachte sie und beschloss, ihr nicht ins Netz zu gehen. Dabei hätte sie allen
Grund gehabt für eine ängstliche Reaktion. Sie war geschlagen, gedemütigt und
bedroht worden auf eine Art, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Dann
kam vor zwei Wochen dieser Brief, in dem sie beschimpft und ihr mit Vergeltung
gedroht worden war. Sie hatte sich lange gefragt, wer was vergelten wolle, aber
nie eine Antwort darauf gefunden. Aber nun schien dieser Spuk aus ihrem Leben
verschwunden zu sein und sie beschloss, mit forschem Auftreten die Angst aus dem
Hause zu jagen. Sie ging mit festem Schritt zu der Tür und wollte sie schließen.
Sie erschrak heftig, als ein dicker Kater an ihr vorbei in die Wohnung schoss.
„Komm", lockte Else Weber ihn erleichtert, als der Schreck nachgelassen hatte.
Sie dreht sich um, hatte die offene Tür im Rücken und lockte das fauchende Tier
weiter zu sich her.
Als sich der Arm mit großer Gewalt um sie schlang, hatte sie noch nicht einmal
Zeit zu schreien. Das Messer fuhr ihr rasend schnell durch den Hals und trennte
mit einem Schnitt für immer das Leben aus ihr. Ihr Blut verließ den Körper
stoßweise, verebbte schnell. Als der Arm sie losließ, sank ihr lebloser Körper
zu Boden.
Das blutige Nachthemd wurde ihr hastig heruntergerissen, ihr nackter und
blutiger Leichnam auf eine Schubkarre gelegt und zu einem Graben gefahren. Dort
kippte die Karre um. Es war kaum etwas zu hören, als der Körper die Uferböschung
hinunter ins Wasser rutschte. Wie plötzlich ist Babel zerschmettert, dachte die
in eine gelbe Regenjacke gehüllte Gestalt, die sich die Kapuze so über den Kopf
gezogen hatte, dass man aus der Ferne nicht hätte erkennen können, ob es sich um
eine Frau oder einen Mann handelte. Sie warf nur einen kurzen Blick in den
Graben, nahm die Schubkarre und ging zum Haus zurück. Die Karre wurde achtlos in
eine Ecke des Hofes gestellt. Mit gesenktem Kopf ging die Gestalt über den
großen Vorplatz und wollte die Haustür schließen, damit die Tat möglichst lange
unentdeckt bliebe. Sie stand schon vor dem Haus, die Hand ausgestreckt, die
Türklinke zu ergreifen, als sie sich anders entschied. Sie entschloss sich,
durch das Haus zu gehen - mit offenen Augen. Sie trat ein, achtete darauf, dass
ihre Gummistiefel nicht in die riesige Blutlache traten, die sich vor der Tür
ausgebreitet hatte.
Von der Regenjacke tropfte Wasser auf den Fußboden im Schlafzimmer, als sie das
Licht anmachte. Sie sah sich um und trat an den kleinen Schreibtisch. Sie hatte
keine Angst, entdeckt zu werden, um diese Nachtzeit kam zu der Bewohnerin des
Hauses sicher kein Besuch mehr. Etwas Unbestimmtes in diesem Raum hatte ihre
Aufmerksamkeit erregt. Als sie näher trat, wusste sie, was es war. Auf der
ledernen Schreibunterlage lag ein kleines Buch, fast nur ein Heft. Sie blätterte
darin und erkannte sofort, welchen Schatz sie damit gehoben hatte. Präzise
standen Namen und Daten nebeneinander. Alle Besuche der letzten Jahre waren
darin notiert. Als es umgedreht wurde, fiel ein Brief aus den Seiten. Sie hob
den Umschlag auf, nahm das Buch an sich und verließ das Haus.
Aus Else Webers Haus wurde sonst nichts entwendet, alles blieb unversehrt.
Selbst das Geld, das offen auf dem Schreibtisch lag, wurde nicht gestohlen. Dass
etwas fehlte, wurde erst nach vielen Wochen klar.