Der Tod der Präsidentin
Jan Jacobsen
Leseprobe
Kapitel 1
Computer hochfahren und Outlook öffnen. So beginnt bei Christian Petersen der
Arbeitstag. Meistens erwarten ihn dann unendlich langweilige Mails wie die
neueste Ausgabe des Hamburgischen Gesetzes- und Verordnungsblattes oder die
Mitteilung der Hausverwaltung des Hamburger Landgerichts, dass die
Besuchertoilette im Erdgeschoss bald renoviert werden wird.
Doch heute ist es anders: „Todesnachricht“ steht fett gedruckt in der
Betreffzeile der Mail des Vizepräsidenten. Häufig kommen solche Mails von der
Präsidentin und teilen mit, dass Kollegen, die in den neunziger Jahren
pensioniert wurden, jetzt nach langer schwerer Krankheit verstorben sind.
Als Petersen die Mail öffnete, wurde ihm schnell klar, warum diese Mail vom
Vizepräsidenten kam:
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich muss Ihnen leider die traurige Mitteilung überbringen, dass unsere unendlich
geschätzte Präsidentin Dr. Juliane Hansen heute am frühen Morgen tot in ihrem
Dienstzimmer aufgefunden wurde. Die genauen Umstände ihres Ablebens sind noch
unklar.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Ralf Schröder
Petersen haute es fast aus seinem alten wackeligen Schreibtischstuhl. Die Hansen
tot, unter ungeklärten Umständen. Die Präsidentin war höchstens Anfang fünfzig
und als er sie vor ein paar Tagen in der Kantine gesehen hatte, war sie noch
quietschlebendig. Da konnte was nicht stimmen!
Petersen war einfach zu neugierig, er musste es tun. Er musste sofort bei der Staatsanwaltschaft anrufen, Hauptabteilung VI, zuständig für Tötungsdelikte. „Hallo Christian, wollen wir heute Mittag essen gehen?“, schallte es ihm aus dem Hörer entgegen. Oberstaatsanwalt Hendrik Bruns hatte beste Laune. So ein Tötungsdelikt versaut einem hartgesottenen Ermittler noch lange nicht den Vormittag. „Dann müsste ich ja ständig in mieser Stimmung sein, Leichen sind bei mir schließlich an der Tagesordnung“, so das Motto von Bruns, der die Hauptabteilung VI seit einem Jahr leitete.
Petersen kannte Bruns aus seiner Zeit bei der Hamburger Staatsanwaltschaft,
wo beide mehrere Jahre eng zusammengearbeitet hatten. Daraus war eine
Freundschaft entstanden, die bis heute Bestand hatte. Er schätze an Bruns, dass
dieser auch in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf bewahrte und eigentlich
nie seine gute Laune verlor. Zudem war Bruns einfach ein sympathischer und
unterhaltsamer Zeitgenosse.
Aber zur toten Hansen ließ sich er sich kein Wort entlocken. „Ich weiß doch
selber nichts. Das Landeskriminalamt ist noch mit etlichen Leuten vor Ort
inklusive ein Team der Spurensicherung. Halt das ganz große Geschirr.“ Also
Fremdverschulden, dachte sich Petersen und schwieg ins Telefon.
Doch Bruns ahnte seine Gedanken: „Natürlicher Tod oder Fremdverschulden, beides
ist möglich, das müssen die Untersuchungen zeigen. Lass uns morgen essen gehen,
dann weiß ich vielleicht mehr. Wie immer um 12 Uhr beim Portugiesen“, bellte
Bruns zum Abschied ins Telefon.
Der Portugiese war bei der Hamburger Staatsanwaltschaft Kult. Klein und
dunkel mit wackeligen Tischen und einer schlecht riechenden Toilette im Keller.
Petersen liebte diesen Laden und die Treffen mit den alten Kollegen.
Mehr als zehn Jahre hatte er bei der Staatsanwaltschaft verbracht. Ermittlungen
vorantreiben, Anklagen verfassen, Plädoyers halten. Das war damals seine Welt.
Tür an Tür mit Bruns und den anderen Kollegen. Mittags oder auch nach Feierabend
gingen sie regelmäßig zum Portugiesen.
Das kleine Restaurant lag in einer Seitenstraße der Hamburger Neustadt, in
Sichtweite der Büros der Staatsanwaltschaft. Keine hundert Meter entfernt am
Sievekingplatz befand sich das Hamburger Landgericht, wo Petersen jetzt
arbeitete.
Der Sievekingplatz war seit mehr als hundert Jahren so etwas wie die
Herzkammer der Hamburger Justiz. U-förmig angeordnet standen dort die drei
denkmalgeschützten historischen Gebäude des Hanseatischen Oberlandesgerichts,
des Landgerichts und des Amtsgerichts.
Gemeinsam mit der gegenüber dem Sievekingplatz gelegenen Staatsanwaltschaft
bildeten diese drei Gerichte das Hamburger Justizforum. Optimale Bedingungen für
Richter und Staatsanwälte um sich kurzfristig für eine Verhandlung oder auch zum
Mittagessen zu treffen.
Doch wieso es gerade der Portugiese geschafft hatte, zum beliebtesten
Treffpunkt aufzusteigen, ließ sich rückblickend nur noch schwer erklären. Klar,
die Küche war gut. Aber das altmodische und teilweise reparaturbedürftige
Interieur entsprach so gar nicht den Ansprüchen, die insbesondere die Frauenwelt
an ein Restaurant stellte.
Doch die Hamburger Staatsanwaltschaft war zu Petersens Zeiten noch ein Jungsclub.
Talentierte Juristinnen gingen lieber in die Ziviljustiz, vorzugsweise ins
Familienrecht und übten sich dort in mediativer Verhandlungstechnik.
Bei der Staatsanwaltschaft ging es darum, in möglichst kurzer Zeit möglichst
viele Akten wegzuarbeiten. Und in der Hauptverhandlung einstecken und austeilen
zu können. „Deine Kollegen erkenne ich an ihrem meist zu lauten Organ und an den
ausgebeulten Anzügen aus den neunziger Jahren“, pflegte Petersens Frau zu sagen.
Doch in den vergangenen Jahren hatte sich die Hamburger Staatsanwaltschaft in
rasanter Geschwindigkeit verändert: Ein zusätzliches Dienstgebäude, eine neue
Generalstaatsanwältin und ganz viele neue junge attraktive Kolleginnen. Der
Frauenanteil war inzwischen so groß, dass die Staatsanwaltschaft in
überregionalen Anzeigen fast schon verzweifelt nach männlichen Bewerbern suchte.
Nur die Treffen beim Portugiesen waren noch genauso wie immer.
„Auf jeden Fall schon mal zwei Sagres vom Fass“ rief Bruns dem Kellner schon
beim Reinkommen zu. Er kam dann sofort zur Sache: „Der Fall ist nicht einfach.
Es gibt keine Hinweise auf Fremdverschulden. Sie lag einfach tot auf dem Teppich
in ihrem Dienstzimmer. Ziemlicher Schock für die Putzfrau. Nehmen wir die
Calamari von der Tageskarte?“, fragte Bruns komplett übergangslos.
Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sein Redeschwall wieder ein. „Laut dem von
der Putzfrau alarmierten Notarzt ist die Hansen in der Nacht so gegen 22 Uhr
gestorben. Doch woran, wissen wir noch nicht. Ich habe ein
Todesermittlungsverfahren eingeleitet, streng nach Gesetz.“
Todesermittlungsverfahren:
Die Strafprozessordung schreibt vor, dass bei einem Verdacht auf einen
unnatürlichen Tod die Staatsanwaltschaft zu informierten ist. Diese hat dann
darüber zu entscheiden, ob eine Leichenöffnung erforderlich ist.
„Die Frage ist doch: Wer profitiert von ihrem Tod?“, fragte Petersen ganz
direkt. „So weit sind wir noch nicht. Erstmal geht es darum festzustellen, ob
sie nicht eines natürlichen Todes gestorben ist. Dazu werten wir die Spuren in
ihrem Dienstzimmer aus und überprüfen, mit wem sie in den letzten Stunden vor
ihrem Tod noch Kontakt hatte. Und höchstwahrscheinlich muss auch Professor
Buschmann ran“, beschrieb Bruns den weiteren Gang der Ermittlungen.
Vielen Dank Herr Oberstaatsanwalt für die Erläuterung des weiteren Verfahrens.
Da wäre ich alleine nicht drauf gekommen, dachte sich Petersen und schwieg.
Manchmal hatte er den Eindruck, dass dem Kollegen Bruns die Beförderung zum
Hauptabteilungsleiter ein wenig zu Kopf gestiegen war. Dass in einem solchen
Fall Professor Buschmann, Leiter des Rechtsmedizinischen Institutes des
Universitätsklinikums, die Leiche obduzieren musste, war ja wohl eine
Selbstverständlichkeit.
Leichenöffnung:
Eine Leichenöffnung wird nach der Strafprozessordnung immer von zwei Ärzten
vorgenommen. Einer von ihnen muss Gerichtsarzt oder Leiter eines öffentlichen
gerichtsmedizinischen oder pathologischen Instituts sein. Die Staatsanwaltschaft
hat bei der Leichenöffnung ein Anwesenheitsrecht – auf ihren Antrag auch ein
Richter.
„Kann ich an der Leichenöffnung teilnehmen?“, fragte Petersen ein wenig dreist.
Bruns winkte ab: „Dafür kann ich nun beim besten Willen keine sinnvolle
Erklärung erfinden. Ansonsten bin ich aber für jede Unterstützung dankbar.
Schließlich ist ein Drittel meiner Leute im Moment mal wieder im
Erziehungsurlaub. Das bringt die weibliche Übermacht bei den Berufsanfängerinnen
so mit sich.“
Bruns schaute jetzt ein wenig hilfsbedürftig: „Hör dich doch bitte mal ein wenig
am Landgericht um und berichte mir dann von deiner Präsidentin. Was war die
Hansen für ein Mensch? Was hat die so spät noch im Gerichtsgebäude gemacht?
Finde ich zumindest ziemlich ungewöhnlich.“
Petersen musste kurz nachdenken. Klar, die Hansen war seine Präsidentin, aber viel wusste er nicht über sie. Geboren in Hamburg-Blankenese, Mutter: Richterin, Vater: Partner einer alteingesessenen Hamburger Rechtsanwaltskanzlei, Bruder: ebenfalls Anwalt in dieser Kanzlei.
Konsequenterweise war die Hansen auch mit dem Partner einer internationalen
Rechtsanwaltskanzlei verheiratet. Die beiden lebten sehr zurückgezogen in einer
Villa mit Elbblick am Rande vom Blankenese.
Doch was die Hansen gegen 22 Uhr noch in ihrem Dienstzimmer gemacht hatte,
wusste Petersen natürlich auch nicht. Um diese Zeit hielt sich schon der
nächtliche Wachschutz im Gebäude auf. Und die Eingangstüren waren normalerweise
verschlossen, wenn nicht eine vom Hausmeister vergessen wurde.
Doch das Dienstzimmer der Hansen war ohnehin immer abgeschlossen. Und zudem
nur über ein Vorzimmer zu erreichen. Da kam niemand hinein, den die Präsidentin
nicht sehen wollte.
Aber wen wollte sie zu so später Stunde noch sehen? Mit wem hatte sie so
wichtige Dinge zu besprechen, dass sie sich um diese Zeit mit ihm verabredete?
Das Mittagessen mit Bruns hatte in Petersen wieder das Ermittlergen geweckt. Wer
mal bei der Staatsanwaltschaft war, verlor das nicht.
Und Petersen hatte auch schon eine Idee, wer ihm bei den Ermittlungen
weiterhelfen könnte: Seine Lieblingskollegin, die seit rund einem Jahr im
Präsidium des Landgerichts saß.
Schließlich starb die Hansen in der Nacht vor der Präsidiumssitzung. „Ich hör
mich mal um“, sagte er zu Bruns, „aber erstmal nehmen wir noch zwei frische
Sagres, oder?“