Die letzte Lieferung
Michael Romahn
 

Leseprobe

1. Kapitel
Dienstag, 5. Dezember

Jana Landau näherte sich mit ihren roten VW Polo dem Waldrand des Rüstjer Forstes. Der anhaltende Regen der letzten Tage hatte den Weg in eine wahre Schlammwüste verwandelt. Sie drosselte die Geschwindigkeit, um den Polo wenigstens einigermaßen in der Spur zu halten. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Warum war sie ihrem Vater gefolgt, anstatt in der Spedition auf seine Rückkehr zu warten? Für einen Moment dachte sie daran umzukehren, doch dann würde sie vermutlich nie erfahren, was ihr Vater an diesem verlassenen Ort zu suchen hatte. Sie spürte die Wut, die in ihr aufloderte, Wut auf ihren Vater, aber vor allem auf sich selbst, dass sie sich in diese bedrohliche Lage gebracht hatte. Sie biss sich auf die Lippen. Ihr Vater hatte am Tag ihres Wiedersehens geschworen, so einen Scheiß nie wieder zu machen. Er hatte es ihr hoch und heilig versprochen, genauso wie er es ihrer Mutter versprochen hatte, als sie ihn am Anfang seiner Haftstrafe besucht hatte. Mama war nur dieses eine Mal bei ihm gewesen, danach nie wieder! Ihr Blick fiel auf den kleinen Schuh aus dunkelrotem Leder, der an ihrem Rückspiegel baumelte. Er hatte die Größe 18, und es war der erste Schuh, den sie in ihrem Leben getragen hatte. Sie war gerade mal vier Jahre alt gewesen, als ihr Vater zu dreieinhalb Jahren Gefängnis in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel verurteilt wurde. Ihre Mutter hatte danach alle Kontakte zu ihm abgebrochen und hatte alle Bemühungen ihres Vaters, wieder in ihre Nähe zu kommen, gerichtlich verbieten lassen. Erst Jahre später hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass er Drogen und Zigaretten über die tschechische Grenze nach Berlin geschmuggelt hatte. All die Jahre hatte Jana nur den Worten ihrer Mutter geglaubt. Was war ihr auch anderes übrig geblieben? Doch vergessen konnte sie ihren Vater nie und sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ihn zu finden, sobald sie achtzehn war und ihre Mutter nichts mehr dagegen unternehmen konnte. Jana fuhr sich mit den Fingern durch ihr braunes, schulterlanges Haar. Sie war aufgeregt gewesen wie noch nie in ihrem Leben, als sie vor einem halben Jahr vor seiner Tür stand. 14 lange Jahren waren vergangen und dann stand er plötzlich vor ihr: in Jeans, Sweatshirt, grau meliertem Haar und Dreitagebart. Sein unsicheres Lächeln hatte ihr verraten, dass er genauso angespannt war, wie sie selbst. Sie hatten die ganze Nacht geredet, bis die Morgendämmerung einsetzte. Am nächsten Tag hatte er ihr dann den kleinen Schuh in die Hand gedrückt. „Ich habe ihn behütet wie einen Schatz“, hatte er gesagt. „Er war in all den Jahren die einzige Erinnerung an dich.“
Es hätte ihr beinahe das Herz zerrissen, als sie den winzigen Schuh in den Händen hielt. Sie drehte ihr Gesicht zum Seitenfenster und starrte in die Dunkelheit. Warum hatte er ihr vorhin in der Spedition nicht die Wahrheit gesagt? Sie hatte ihren Vater dabei überrascht, als er am Abend eine Reihe von Kartons zu seinem Lieferwagen trug. Als sie wissen wollte, was in diesen Kartons sei, hatte er nur den Kopf geschüttelt. „Was ist in den Kartons, Papa? Worauf hast du dich da eingelassen?“ Sie hatte sich ihm provokativ in den Weg gestellt, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, den nächsten Karton einzuladen. „Ich kann es dir nicht sagen, Jana“, hatte er geantwortet. „Ich muss jetzt los. Bitte, lass uns später darüber reden.“
Er hatte den letzten Karton in den Wagen gestellt und wollte sich an ihr vorbei zur Fahrertür drängen.
„Papa, was verheimlichst du mir? Sag es mir. Bitte.“
„Jana, du musst mir vertrauen. Wenn ich das hier nicht zu Ende bringe, ist alles verloren.“
„Was ist dann verloren?“
„Ich muss jetzt wirklich los. Ich bin jetzt schon viel zu spät dran.“ Er hatte sie nicht einmal angesehen, als er ins Auto stieg und einfach davon fuhr.


***

In einem Moment der Unaufmerksamkeit lenkte sie den Wagen zu weit an den Rand des Weges. Sie versuchte noch einmal, Gas zu geben. Doch es war zu spät. Bei dem Versuch, den Wagen wieder freizubekommen, gruben sich die Reifen immer tiefer in den Schlamm. „Verdammter Mist“, stieß sie aus und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. „Ausgerechnet jetzt!“
Jana stellte den Motor ab, stieg aus und lief um das Auto herum. Sie stöhnte auf, als sie sah, dass der rechte Vorderreifen bis zur Hälfte versunken war. Ihr war klar, dass sie den Wagen allein nicht wieder flott bekommen würde. Sie schaute zum Himmel hinauf. Kein Stern war zu sehen. Es war stockfinster, nur ab und zu stahl sich das Mondlicht durch die trägen Wolken.
Ihr Blick wanderte über den Forstweg hinweg zum Wald, der ihr wie ein schwarzes, Furcht einflößendes Loch vorkam. Zögernd ging sie los, vorbei an einem Stapel frisch geschlagener Baumstämme und folgte dem Lauf des Weges, der sich in der Dunkelheit des Waldes verlor. Plötzlich glaubte sie, etwas weiter im Wald einen Lichtschein zu erkennen. Dann flackerte ein zweites Licht auf. Sie hielt inne. Beim Anblick der Lichter lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinab. Was hatte ihr Vater so spät abends hier zu suchen? Jana vernahm ein Knacken, fuhr herum, aber es war niemand zu sehen. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass es für die ganze Sache eine logische Erklärung geben musste, obwohl so gut wie alles dagegen sprach. Jana stand unbeweglich da und starrte zum Lichtschein. Sie war kurz davor, in Panik zu verfallen. Wieder hörte sie das Knacken von Ästen. Sie schaute verwirrt in die Dunkelheit und wusste nicht so genau, was sie jetzt tun sollte. Ihr Herz krampfte sich ruckartig zusammen. Bevor sie die dunkle Gestalt hinter sich überhaupt wahrnehmen konnte, schlang er schon seinen Arm um ihren Hals und zog sie ruckartig an sich. Instinktiv versuchte sie, sich loszureißen, doch es war zwecklos. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie hätte es nie so weit kommen lassen dürfen, doch jetzt war es zu spät. „Du hättest nicht herkommen sollen, Süße“, zischte er ihr ins Ohr. „Das war ein großer, ein sehr großer Fehler.“ Der Klang seiner düsteren Stimme trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Sie versuchte zu schreien, doch es war sinnlos. Er verstärkte den Druck auf ihren Kehlkopf. „Ich habe euch beobachtet. In der Spedition. Sicher ist sicher, habe ich mir gedacht.“ Sein dreckiges Lachen nahm sie kaum noch wahr. Sie schnappte nach Luft, spürte, wie all ihre Sinne allmählich schwanden. „Ihr habt euch gestritten“, fuhr er fort, während er eine Spritze aus seiner Jacke zog und mit den Zähnen die Kappe von der Nadel zog. „Erzählst du mir, warum?“ Was für ein Irrsinn, schoss es Jana durch den Kopf. Selbst wenn sie bereit dazu wäre, hätte sie ihm nicht antworten können. Ihr Kehlkopf schmerzte so sehr, dass sie glaubte, er würde im nächsten Moment in tausend Stücke zerspringen. „Dann eben nicht“, zischte er ihr ins Ohr. Sein widerlicher Gestank drang ihr in die Nase. Es war alles dabei: alter Schweiß, und ein Gemisch aus Alkohol und kaltem Rauch. „Mir wusste von Anfang an, dass du deinem Vater folgen würdest. Aber das hättest du nicht tun dürfen.“ Wieder stieß er ein widerliches Lachen aus. „Deinem Vater blieb schon damals keine andere Wahl, als mit uns zusammenzuarbeiten und das wird auch dieses Mal nicht anders sein.“ In diesem Moment vernahm sie das Aufheulen eines Motors. Ihr Herz raste, als sie nur wenig später aus den Augenwinkeln zwei helle Lichtkegel im Wald sah. Sie wusste, was jetzt geschehen würde. Sie starrte auf die dünne Nadel, die sich ihrem Körper langsam näherte. „Tut mir Leid, Schätzchen. Aber ich denke, es ist jetzt an der Zeit, zu gehen.“
Sie spürte nur noch den Stich in der Armbeuge, eine eigenartige Wärme, die langsam durch ihre Venen kroch, als hätte man ihr heißes Wasser injiziert. Sie schloss die Augen, als das Gefühl des Fallenlassens ihren Körper durchflutete und alles um sie herum aus ihrem Gehirn verbannte. Jetzt ist es vorbei, endlich vorbei, war ihr letzter Gedanken, bevor ihr das Gift die Sinne raubte.



Kapitel 2
Mittwoch, 6. Dezember

Oberkommissarin Ilka Hansen warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon kurz nach acht und sie hatte noch nicht einmal geduscht. Sie wählte die Nummer ihres Kollegen Cem Kayaoglu und teilte ihm mit, dass sie zuerst noch einen Termin bei Dr. Seidel hätte und erst danach ins Büro kommen würde. Nach der ausgiebigen Dusche und einem Becher heißem Kaffee in der Hand warf sie einen Blick in den Spiegel. Was sie dort sah, war ganz passabel. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Das tiefe Schwarz vom letzten Friseurbesuch war ein wenig ausgeblichen und der letzte Schnitt hatte auch ein wenig an Form verloren, aber im Großen und Ganzen konnte sie sich durchaus noch sehen lassen. Das eine oder andere überflüssige Kilo, das sie ihrem Urlaub in Vernazza zu verdanken hatte, war auch schon wieder verschwunden. Trotz ihrer 42 Jahre sah sie noch recht attraktiv aus, wenn man mal von den Fältchen in den Augenwinkeln absah. Die letzten Wochen waren für sie nicht einfach gewesen und hatten ihr viel Energie geraubt. Ilka föhnte sich kurz ihre Haare und zog sich an. Ihre Kleiderwahl war noch nie besonders abwechslungsreich. In Jeans, T-Shirt und vielleicht noch einem Pullover darüber, fühlte sie sich am wohlsten. Nur ihre schwarze Lederjacke musste sie angesichts der winterlichen Temperaturen gegen eine warme Daunenjacke tauschen. Sie warf noch einen letzten Blick in den Garderobenspiegel und schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sie nahm sich vor, an einem der nächsten Abende ihren Haaren eine frische Tönung zu gönnen.

***

Auf dem Weg nach draußen wäre Ilka beinahe über Sinas Winterstiefel gestolpert, den ihre Tochter unübersehbar direkt vor die Haustür gestellt hatte. Eigentlich musste sie Sina sogar dankbar sein, sonst hätte sie total vergessen, dass heute bereits der 6. Dezember war. Sie wussten beide nicht so genau, wieso sie immer noch am Nikolausmorgen ihre geputzten Schuhe neben die Tür stellten, aber solange Sina noch bei ihr lebte, würden sie dieser Tradition treu bleiben. Ilka steckte eine Tüte saurer Kaubonbons in den Stiefel. Dann legte sie noch John Green dazu, den sie ihr planmäßig erst zum Geburtstag schenken wollte. ‚Das Schicksal ist ein mieser Verräter‘. Sina hatte schon immer einen etwas eigenartigen Geschmack, aber sie liebte nun mal die Bücher dieses Autors. Bevor sie das Haus verließ, stellte sie mit einem Lächeln ihren Schuh daneben und ließ die Tür hinter sich zufallen. Ein eisiger Wind fuhr ihr ins Gesicht. Die Wetterschwankungen der letzten Wochen machten ihr zu schaffen. Der anfangs blaue Himmel hatte sich komplett zugezogen und aus dem leichten Nieselregen war jetzt ein ekelhafter Graupelschauer geworden. Sie zog die Kapuze ihrer Regenjacke über den Kopf und machte sich auf den Weg zur letzten Sitzung mit Dr. Seidel. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich einmal auf die Gespräche mit Dr. Seidel freuen würde. Als ihr Chef Patrick Dannenberg ihr nahegelegt hatte, nach dem letzten Einsatz die Hilfe eines Psychologen anzunehmen, wäre sie ihm beinahe ins Gesicht gesprungen. Doch jetzt spürte sie, dass sie ohne Dr. Seidel niemals dieses Ereignis hätte verarbeiten können. Vier Tage hatte sie auf der Intensivstation verbracht, danach wochenlange Reha über sich ergehen lassen. Das alles lag jetzt hinter ihr. Es war ein Ereignis, das Ilka immer wieder zu verdrängen versuchte und doch gab es immer noch Nächte, in denen sie schweißgebadet aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte. Ihr war bewusst, dass sie eigenmächtig gehandelt und dadurch sich und das Team in Gefahr gebracht hatte. Aber sie musste an jenem Abend eine Entscheidung treffen, als Wolfgang Erdmann mit der Geisel vor die Haustür getreten war, mit der Gewissheit, dass sich im Haus noch die Tochter Maria befand. Niemals würde sie den Augenblick vergessen, als das Mädchen im Nachthemd im Hauseingang erschien war und ihr weißes Stofftier fest an sich gedrückt hatte. Es war der Augenblick, in dem Erdmann für einen Bruchteil einer Sekunde seine Konzentration verloren hatte und Ilka einen gezielten Schuss auf ihn abfeuern konnte. Auf diesen einen Moment hatte sie gewartet. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch einmal die Kraft aufbringen würde, seine Makarow an sich zu nehmen. Ilka mochte nicht daran denken, wie dieser Einsatz hätte enden können. Wenn Erdmanns Kugel sie einen Millimeter weiter links getroffen hätte, wäre sie jetzt tot. Nur einen Millimeter, eine Winzigkeit, dann wäre es vorbei gewesen.

***

 „Hallo Ilka. Schön, dich zu sehen.“ Dr. Ralf Seidel wartete, bis sie ihm gegenüber Platz genommen hatte. Obwohl er vor kurzem erst seinen einundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, wirkte er mit seinen kurzen, ergrauten Haaren wesentlich älter. Er trug stets einfarbige Hemden, eine graue Strickjacke und eine randlose Brille. Ilka fragte sich manchmal, warum er überhaupt eine Brille besaß, weil er sie entweder in die Haare geschoben hatte oder danach suchte. „Heute ist unsere letzte Sitzung. Wie fühlst du dich? Bis du erleichtert, dass es vorbei ist?“ Auf Ilkas Bitte hin waren sie schon bei der zweiten Sitzung zum ‚Du‘ übergangen. Ilka warf dem Polizeipsychologen einen skeptischen Blick zu. „Ist das wieder eine von deinen Fangfragen?“
Dr. Seidel lächelte. Er mochte Ilkas Direktheit, die Dinge so anzusprechen, wie sie ihr gerade in den Sinn kamen, auch wenn es manchmal länger als gewöhnlich dauerte, bis er einen Einblick in ihr Inneres bekam. „Nein, ist es nicht. Ich frage dich nur, ob du erleichtert bist, dass es vorbei ist.“
„Na ja, die eine oder andere Sitzung hätte ich wohl noch durchgehalten“, scherzte Ilka.
Seidel beugte sich vor und sah Ilka direkt in die Augen.
„Ich hoffe, dass du unsere Gespräche nicht als Zwang angesehen hast, sozusagen als dienstliche Anweisung. Dann hätten wir beide unsere Zeit verschwendet.“ „Ich habe es nie als verschwendete Zeit angesehen“, widersprach Ilka. „Es war am Anfang nur schwer, überhaupt darüber zu sprechen. Aber es war gut, dass ich es gemacht habe. Denn irgendwann frisst einen die Angst auf. Du kannst nicht mehr klar denken und alles, was du tust, stellst du selbst wieder in Frage. Das ist ein ewiger Kreislauf und irgendwie kein normales Leben mehr. Verstehst du, was ich damit sagen will?“ „Sehr gut sogar, Ilka. Das ist eine völlig normale Reaktion, nach dem, was dir widerfahren ist. Glaube mir, selbst der härteste Hund kehrt nach einem Ereignis wie diesem nicht einfach zum normalen Alltag zurück.“ Ilka zog die Stirn kraus. „Ich habe auch nicht erwartet, dass es ‚einfach so‘ geht. Aber ich bin bei der Kripo und, wenn ich den Job nicht professionell ausüben kann, dann kann ich gleich zuhause bleiben.“ Dr. Seidel warf einen kurzen Blick in seine Unterlagen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Ilka schenkte.
„Du hast beim letzten Mal gesagt, dass du beim nächsten Einsatz alles ausblenden kannst, dass dich nichts in deinem Handeln beeinträchtigen wird. Aber was passiert, wenn es nicht so ist? Wenn du nur einen kurzen Moment zögerst, die richtige Entscheidung zu treffen?“ Ilka zuckte nur mit den Schultern.
„Stark zu sein“, fuhr Seidel fort, „bedeutet auch, sich eine Schwäche einzugestehen. Wenn du in den Spiegel schaust und die Narbe betrachtest… was geht in dir vor?“ „Es ist ein seltsames Gefühl“, sagte Ilka leise. „Wenn ich die Narbe sehe, muss ich immer daran denken, wie knapp es war. Dann kommen die Erinnerungen wieder, der Moment, in dem es passierte. Es ist nicht so einfach zu erklären.“ Seidel nickte. „Du kannst die Narbe ignorieren, sie mit einem Kleidungsstück überdecken, aber sie ist trotzdem ein Teil von dir. Erst wenn du das akzeptierst, kannst du auch damit umgehen.“ „Das ist nicht so einfach“, gab Ilka zu.
Seidel richtete sich auf und schaute ihr dabei fest in die Augen.
„Soll ich ehrlich sein, Ilka?“
„Ja, natürlich.“
„Wir sind auf einem guten Weg, aber er ist noch nicht zu Ende.“
Ilka verstand nicht, worauf er hinaus wollte, doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort: „Was empfindest du in diesem Moment, am Ende unseres letzten Gesprächs?“ Ilka kniff die Lippen zusammen. Sicherlich sah Seidel ihr sofort an, dass sie hin-und hergerissen war. Es war sein Beruf, das Verhalten der Menschen zu deuten. „Einerseits empfinde ich ein wenig Wehmut, weil ich die Gespräche mit dir vermissen werde, aber auf der anderen Seite bin ich natürlich auch erleichtert, dass es vorbei ist. Es ist manchmal gar nicht so einfach, die Seele vor einem anderen Menschen offenzulegen. Aber egal, jetzt ist es vorbei.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Und genau das ist dein Problem, Ilka. Du glaubst, alles im Griff zu haben, aber letztendlich bist du dir nicht sicher. Aber ich weiß, dass du eine starke Frau und eine der besten Kripobeamten in unserem Land bist.“ „Danke für das Kompliment. Aber das war doch nicht alles?“
Er lächelte. „Nein, natürlich nicht. Denn ich sehe auch eine Frau, die Angst hat zu versagen, falsch zu reagieren, wenn sie wieder in eine ähnlich bedrohliche Situation gerät. Wenn ich mich täusche, dann sage es.“ Ilka senkte ihren Blick zu Boden. Sie dachte ein paar Sekunden über seine Worte nach, dann schaute sie wieder zu ihm.
„Du täuscht dich nicht“, sagte sie leise, „Aber das weißt du ja schon längst.“
Er nickte. „Also möchtest du den Weg bis zum Ende gehen?“
„Ja, das möchte ich.“
„Du musst es nicht machen, Ilka.“
„Ich weiß“, erwiderte Ilka ohne zu zögern. „Ich hätte am Anfang nie geglaubt, dass ich das einmal sagen würde, aber die Gespräche mit dir tun mir irgendwie gut. Anders kann ich es nicht beschreiben.“ „Also machen wir weiter?“
„Ja.“
„Dann sehen wir uns nächste Woche um dieselbe Zeit?“
„Abgemacht.“

 

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