Inselkoller
Wolfgang Röhl

Leseprobe

"He always runs while others walk. He acts while other men just talk."
(Titelsong des James Bond-Films „Thunderball", aus Bernhard Hamms Datei „Starke Sprüche")

SCHON IM MOMENT, ALS ER DIE MIT ROSTFLECKEN übersäte, einen morbiden 50er-Jahre-Charme verströmende Fähre am Festland bestieg, ahnte Hamm, dass er einen Fehler gemacht hatte. Auf der Insel würde er keinen Spaß haben. Über die klapperige Gangway, deren Bodenwülste sich seinem Rollenkoffer tückisch entgegen stellten, enterte ein gemischtes und doch seltsam homogenes Völkchen die „Diekerum I".

Da waren gut erhaltene Frührentnerpaare. Er mit Backenbart und Anglerweste, sie mit einer ungemein praktischen, rötlich gefärbten, im Nacken hoch rasierten Kurzhaarfrisur. Beide trugen ein unsichtbares Pappschild vor der Brust, Aufschrift: MAMI UND PAPI MACHEN´S NICHT MEHR. Andere Passagiere waren hager, fast ausgemergelt. Ihre Gesichter blickten ernst, als seien diverse Apokalypsen im Anmarsch.

Ihre Kleidung war demonstrativ praktisch, auf eine altbackene, unfrohe Art. Hardcore-Anthroposophen in den Sommerferien, mutmaßte Hamm. Paare mit Kleinkindern, unablässig in hektische Brutpflege verstrickt, gab es ebenso wie Frauen-Reiseduos; die eine Hälfte dick und freundlich dreinblickend, die andere attraktiver und kühl angebunden. In ihrem Gepäck, dem Volumen nach zu urteilen, befanden sich drei Dutzend Schundromane des Genres „Pfiffige Frauen und wie sie schusselige, aber sympathische Männer flach legen". Dazwischen tobten und kreischten massenhaft Kinder, anscheinend für ein Heim auf der Insel bestimmt.

Zwei ältere, füllige Frauensemester in wallenden rötlichen Gewändern, umhüllt von phantasievollen Schals, dicke Ketten mit bunten hölzernen Kugeln um Hände und Hälse, hockten in einer windstillen Ecke nahe den Rettungsinseln und unterhielten sich. Ganz beieinander, symbiotisch fast. Gütiger Himmel! Die Poona-Generation kehrt heim, durchfuhr es Hamm.

Er bereute, dem Tipp seines Chefs gefolgt zu sein, der ihm geraten hatte: Wenn Sie sich mal richtig fertig fühlen, fahren Sie nach Diekerum. In Diekerum tanken Sie auf. Zehn Tage Diekerum, das ist wie drei Wochen Sylt. Genau betrachtet, konnte sich Hamm nicht vorstellen, dass sein eitler, elitärer Chef, Porschefahrer und Sylt-Fan seit vielen Jahren, jemals auf einer schrottigen Fähre nach Diekerum geschippert war. Und falls doch, dann nicht ein zweites Mal. Wahrscheinlich hatte er seine Weisheit über die Insel irgendwo aufgeschnappt und ungeprüft weiter verteilt.

Es war aber ganz allein seine eigene Schuld, fand Hamm. Er hätte niemals den Urlaubstipp eines Fremden in die Realität umsetzen dürfen. Urlaub war, wie Bücher oder Filme oder Musik, eine hoch individuelle Angelegenheit. Hamm selber wurde manchmal von Bekannten, die seinen jetzigen Beruf kannten, als vermeintlicher Experte um Ferienziele angegangen, verweigerte sich aber stets. Wie alle anderen hatte er Lieblingsplätze, ja, aber die funktionierten allein in seinem eigenen Koordinatensystem. Nur wer einen anderen Menschen wirklich kannte, konnte ihm vielleicht Ratschläge geben, die für ihn passten.

Hamm wusste niemanden, der ihn gut kannte. Außer Clarissa, vielleicht. Aber an die konnte er sich schwerlich wenden. Nicht mehr. Er spürte plötzlich heftigen Hunger. Er war mit der Bahn angereist, da die Insel autofrei war und er seinen Wagen nicht auf einen der teuren Stellplätze auf dem Festland parken wollte. Doch die Fahrt hatte sich als mühsam erwiesen. Er musste in verschiedene, immer verwahrloster wirkende Regionalbahnen umsteigen, die an jeder Milchkanne hielten, bis ein betagter Triebwagenzug endlich mit infernalisch kreischenden Bremsen direkt am Fähranleger stoppte. Zuletzt hatte Hamm ein Croissant im Bahnhof gegessen. Vom Oberdeck ging er über einen Abgang in den hinteren Passagierraum, wo ein Kiosk untergebracht war. Er nahm zwei Würstchen und ein Wasser und setzte sich im hinteren Teil der Kabine ans Fenster.

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