Milchfieber
Thomas B. Morgenstern
 

„Arthur Dexter Bradley said: I´ m really not sure.” Bob Dylan, “Hurricane

 

Leseprobe


Prolog

Die Feier zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag hatte Horst Winkler seit Wochen genau geplant. Trotzdem verlief der Tag völlig anders als er es erwartet hatte und veränderte sein Leben für immer.
Von Anfang an wusste er, dass es ein Sektempfang sein sollte. Alle Freunde und Bekannten, die ihm gratulieren wollten, lud er ein, an seinem Geburtstag um 11 Uhr auf seinen Hof zu kommen. Eine größere Feier kam für ihn nicht in Frage. Die wollte er sich für seinen Vierzigsten aufheben.

Bei solchen Gelegenheiten, auch einem Fünfzigsten oder Sechzigsten, wurde von manchen Bauern sogar „auf den Saal“ eingeladen. Man musste niemandem erklären, in welcher Gaststätte der Saal war, „auf“ dem gefeiert werden sollte. Im Dorf gab es nur einen.

Horst Winkler hatte mit mehr Besuchern gerechnet und war ein wenig enttäuscht, dass sich außer seinen direkten Nachbarn niemand eingefunden hatte. Der Sekt wurde nicht weniger und die vielen Flaschen, die er für diesen Anlass gekauft hatte, stapelten sich in seinem kleinen Kühlhaus. Einige der Gäste brachten Geschenke mit. Zwei Grünpflanzen, die so groß waren, dass er nicht wusste, wo er sie hinstellen sollte, eine neue Kaffeemaschine, zwei Mistgabeln und ein Nuckeleimer für die Kälber waren aber eine gute Ausbeute, dachte er, als er am Abend nach dem Melken alles noch einmal in Ruhe besah. Dazu hatte es noch einen Gutschein für den Raiffeisenladen gegeben. 100 Euro hatten die Mitglieder der Musikgruppe, in der er Schlagzeug spielte, zusammengelegt.

Das schönste Geschenk aber machten ihm die Männer von der Feuerwehr, die sich schließlich doch noch bei ihm einfanden und ihn für den Abend in das Feuerwehrhaus einluden.
„Wir haben da eine Kleinigkeit vorbereitet“, meinten sie geheimnisvoll, er solle pünktlich sein.

In dem kleinen Haus, in dem der einzige Löschwagen der kleinen Feuerwehrgruppe stand, gab es auch einen größeren Raum, in dem sich die Feuerwehrleute zu Weiterbildungen trafen und nach den wöchentlichen Übungen Bierkästen leerten. Bei Wahlen diente er als Wahllokal und obwohl das Haus nicht als solches erbaut worden war, war es so etwas wie die Zentrale für alle Dorfangelegenheiten. So hatte auch niemand etwas einzuwenden, wenn dort Geburtstagsfeste oder Jubiläen gefeiert wurden.
Horst und sein Bruder Klaus, den alle Klausi nannten, liefen den kurzen Weg zu Fuß. Aus dem Feuerwehrhaus hörten sie schon von weitem die Mischung aus lauten Männerstimmen und noch lauterer Musik.

Horst hätte heute, an seinem Geburtstag, gerne mit seiner Musikgruppe Musik gemacht, ein wenig auf dem Schlagzeug getrommelt, aber die Musiker waren nicht bei der Feuerwehr und deshalb heute Abend nicht eingeladen.

Die Feuerwehrleute brachen in großes Gejohle aus, als Horst ein wenig schüchtern die Tür öffnete. Erstaunt sah er, wie liebevoll die Holztische gedeckt waren, es standen überall Gedecke und Gläser und es gab Kartoffelsalat und Würstchen und viele Kästen Bier. Irgendjemand hatte herausbekommen, dass dies Winklers Lieblingsessen war und einige Frauen der Feuerwehrmänner hatten das Essen vorbereitet und die Tische dekoriert.

Horst war glücklich über die Einladung. Er griff wie ausgehungert zu und die Enttäuschung über den geringen Besuch bei seinem Sektempfang war verflogen.
Die Stimmung erreichte schließlich ihren Höhepunkt, als Dietmar Voß gegen zehn mit dem Löffel an sein Bierglas stieß und dröhnend in den Saal rief:
„Ruhe bitte!“ Er musste dies zweimal wiederholen, bis der Gesprächspegel so war, dass er sich verständlich machen konnte.
„Liebe Gäste! Ich habe das besondere Vergnügen, euch nun den Höhepunkt des Abends anzukündigen. Horst ist ja nun schon lange bei der Feuerwehr und deshalb haben wir Feuerwehrkameraden uns etwas ganz Besonderes ausgedacht. Unserem lieben Horst wollten wir eine Freude machen. Deshalb haben wir uns mal ohne Horst zusammengesetzt. Deshalb haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht“, Voß begann sich zu wiederholen. Die freie Rede war nicht seine Stärke.

„Also lieber Horst“, sagte er, „du setzt dich jetzt mal in die Mitte. Du bist ja schließlich der Mittelpunkt heute Abend.“
Horst machte keine Anstalten, seinen Platz zu verlassen.
„Horst, jetzt zier dich nicht“, Voß wurde ungehalten und seine kräftige Stimme wurde etwas schriller.
Jetzt gehorchte Horst. Er nahm seinen Stuhl und setzt sich in die Mitte des Raumes.
Voß stellte sich neben ihn und begann:
„Wir haben uns gedacht, also wir von der Feuerwehr haben uns zusammengesetzt“, er machte eine hilflose Pause, räusperte sich umständlich und fuhr fort: „Wie gesagt, wir haben uns überlegt, also da sind wir drauf gekommen“, Voß wusste nicht mehr weiter.

Aufgeregt durchsuchte er seine Taschen nach dem Redemanuskript. Als er es nicht fand, begann er seine Hände verlegen zu kneten, bis sie weiß wurden. Er nahm einen neuen Anlauf. „Wir Feuerwehrkameraden hatten da so eine Idee. Ich glaube, sie wird dir gefallen…“ er schaute hilfesuchend zur Tür, „wie gesagt, wir haben uns ja mal zusammen... − Ah, da ist sie ja!“ Voß setzte sich erleichtert.
Das Licht erlosch und eine junge Frau schlüpfte durch die Tür und setzte sich auf einen Stuhl neben die Tür. Als Musik zu spielen begann, erfasste Hans-Georg Allmers die Situation und hatte Angst um seinen ehemaligen Schulkameraden: Die Männer von der Feuerwehr hatten eine Stripperin engagiert, um Horst eine Freude zu machen. Jeder wusste, dass Horst noch nie eine Freundin gehabt hat und so hatten sie gemeint, es wäre eine blendende Idee, ihm eine öffentliche Nachhilfestunde in weiblicher Anatomie zu spendieren.

Die Feuerwehrleute beklatschten begeistert ihre Idee und ihre Augen wurden groß. Horsts Bruder Klaus saß ein paar Tische weiter und konnte vor Staunen seinen Mund nicht mehr schließen.
Die Frau hatte ein so eng anliegendes Kleid an, dass sich alle ihre Formen darunter abzeichneten und die Männer sich darauf freuten, dass sie aufstand und sich bewegte. Sie war nicht besonders gut und auch nicht besonders aufregend. Mit eingefrorenem Lächeln lieferte sie routiniert ihre einstudierten Bewegungen ab, tanzte eckig zu lauter Musik und setzte sich Horst nach ein paar Runden durch den Raum auf den Schoß. Die Männer tobten. Sie ließ ihre Hüfte auf seinem Schenkel kreisen und kraulte ihm durch die Haare. Horst wurde rot und ein paar Schweißperlen zeigten sich auf seiner Stirn. Seine Erektion explodierte und er hatte Angst, dass alle es sehen könnten. Die Frau sprang auf, rannte zu den Tischen und strich dem einen oder anderen Mann mit ihrem Kleid, das sie während ihrer Runden ausgezogen hatte, durchs Gesicht. Lautes Gejohle war der Dank.

Die Stripperin stellte sich schließlich hinter den schwer atmenden Horst und warf ihm das Kleid über den Kopf. Die Männer johlten noch lauter. Horst regte sich nicht und konnte deshalb nicht sehen, wie sich die Frau mit Bewegungen, die sie für erotisch und aufreizend hielt, vor ihm bewegte. Horst wollte mehr sehen und zog sich das Kleid vom Kopf, obwohl ihm sein Geruch gefiel.
Als sie sich schließlich wieder auf seinen Schoß setzte, nur bekleidet mit knappem Slip und einem sehr knappen BH, aus dem ihre Brüste quollen, begann Horst noch heftiger zu atmen. Schließlich forderte sie ihn unter dem Gekreische der Anwesenden auf, ihren BH zu öffnen. Horst fingerte aufgeregt an dem Verschluss herum, so lange, bis die Frau ungeduldig das Oberteil selbst öffnete und ihm den BH um den Hals legte. Ihre Brust schien erleichtert, aus dem engen Korsett befreit worden zu sein. Sie war eingeschnürt gewesen und nun ließ sie jede Erotik in tiefen roten Druckstellen versinken.

Horsts Kopf schwoll an und kleine Schweißperlen liefen sein Gesicht hinunter. Die Frau stand auf und begann mit ihren Hüften zu kreisen. Dabei zog sie langsam ihren Slip herunter. Bis auf ihre hochhackigen Schuhe war sie nackt. Auf ihrer rasierten Scham klebte ein goldener Stern. Er stach Horst förmlich ins Gesicht. Die Stripperin, Allmers schätzte sie auf Mitte dreißig, umkreiste seinen Stuhl und setzte sich ein letztes Mal auf seinen Schoß. Das war in ihrer Nummer immer der Abschluss, danach wollte sie aufspringen und sich im Nebenraum wieder anziehen.
Horst griff zu und hielt sie fest. Mit festem Griff umklammerte er ihren Arm und sagte mit gepresster Stimme: „Bleib hier!“
Die Frau versuchte sich loszumachen, aber Horsts kräftige Hand blieb geschlossen.
„Lass los, du Idiot“, zischte sie.
„Bleibe hier“, wiederholte Horst unbeeindruckt.
Dietmar Voß sprang auf und eilte ihr zu Hilfe.
„Horst“, sagte er eindringlich, „lass sie los.“
Horst schwieg und lockerte seinen Griff nicht.
Die Frau holte aus und schlug ihm mit der freien Hand ins Gesicht: „Du besoffenes Schwein!“ schrie sie laut. Allmers sprang auf, schlängelte sich durch die Reihen der gaffenden Feurwehrmänner und versuchte Voß von Horst wegzudrängen, aber Voß hielt dagegen und versuchte weiter Winklers klammernde Faust zu lösen.
„Horst!“, schrie Voß erbost, „Lass sie los, du Idiot!“
„Sie soll da bleiben!“ sagte Horst mit tonloser Stimme. „Ich will sie behalten.“
Voß war entgeistert: „Horst!“, sagte er eindringlich und bemühte sich, leise zu sprechen, was ihm bei seiner dröhnenden Stimme schwer fiel, „Horst, das ist eine Stripperin, nicht, was du denkst!“
„Horst!“, sagte Allmers bestimmt, aber er war trotz seines forschen Auftretens genauso ratlos wie Dietmar Voß. „Horst, du musst sie loslassen, das gibt sonst richtig Ärger!“
Horsts trauriger Blick, eine Mischung aus Melancholie und Verbitterung ging Allmers sehr nahe. Horst begannen Tränen in die Augen zu schießen. Schließlich ließ er sie los.
Bevor sie in den Nebenraum verschwand, sagt die Frau noch so leise, dass nur er es hören konnte: „Da musst du schon mehr hinblättern.“

Horst konnte sich nur schwer beruhigen. Er setzte sich abseits an einen leeren Tisch und als Peter Gerlach sich zu ihm setzte, wollte Horst nicht mit ihm reden. Er atmete schwer und hatte vor Aufregung immer noch einen roten Kopf.

„Ich mache dir einen Vorschlag“, hörte Allmers Peter Gerlach sagen. Horst Winkler sah ihn an und sagte nichts. Gerlach beugte sich vor und sprach so leise, dass Allmers nichts mehr verstand.
Irgendwann, Gerlach hatte lange Zeit auf ihn eingeredet, nickte Winkler.
Gerlach stand zufrieden auf, klopfte ihm jovial auf die Schulter und setzte sich an einen anderen Tisch.
Allmers rätselte den ganzen Abend erfolglos, was die beiden verabredet haben könnten.
 

 

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