Straßenkampf
Wolfgang Röhl
„Die Wahrheit ist ein kostbares Gut.
Man kann gar nicht sparsam genug damit umgehen."
Ulrich Tukur als Millionenbetrüger
Jürgen Harksen in Dieter Wedels „Gier"
Leseprobe
Kapitel 1
Als er ihn endlich auf den Beifahrersitz gehievt und mit dem Anschnallgurt
aufrecht sitzend fixiert hatte, lebte der Mann noch. Er stöhnte – erstaunlich
leise angesichts der Schmerzen, die er haben musste – und bewegte ab und zu den
Kopf. Die Augen waren halb geöffnet, die Pupillen erweitert. Einmal schien es,
als wolle er etwas sagen. Aber er brachte kein Wort heraus, nur eine Art
Gurgeln. Hamms Kleidung war über und über blutbefleckt, als spiele er ein Opfer
in einem Splatter-Movie. Er zitterte in der Kühle der Nacht, gleichzeitig rann
ihm Schweiß den Rücken und die Schläfen herunter. Nicht, dass der Transport des
Mannes vom Seitenstreifen ins Auto ihn körperlich überfordert hatte. Der
Verletzte war ein kleiner, schmächtiger Mann, kaum größer als einen Meter
siebzig, wie Hamm schätzte, der selber nur mittelgroß war, aber kräftig und gut
in Form durch die Arbeit, mit der ihn sein Resthof unablässig auf Trab hielt.
Was ihn zittern, beinahe schlottern machte, war vielmehr das Gefühl, keinen
Körper, sondern eine gallertartige Masse zu bewegen. Die Arme baumelten schlaff
von den Schultern wie dicke Hanfseile. Es war keinerlei Spannung in dem Körper
zu fühlen gewesen. Alle möglichen Knochen mussten gebrochen sein. Am linken
Oberschenkel war ein Stück durch die Jeans gestoßen und guckte hervor wie ein
Menetekel. Der Mann musste wirklich höllische Schmerzen haben.
Hamm ging durch den Kopf, dass es hieß, extremer Stress bewirke einen Ausstoß
irgendwelcher körpereigener chemischer Substanzen, die schmerzunempfindlich
machten, wenigstens für eine Weile. Eines dieser genialen Programme, die das
Überleben des Homo sapiens ermöglichen, selbst unter schlimmsten Konditionen.
Hoffentlich wusste der Körper des Verletzten, wie er sich zu verhalten hatte.
Hamm zitterte noch aus einem anderen Grund. Er hatte sich mit dem Transport des
Verletzten eine Verantwortung aufgeladen, die ihm immer stärker bewusst wurde.
Was, wenn der Mann während der Fahrt in die Kreisstadt starb? Was, wenn sich
herausstellte, dass er nie und nimmer hätte bewegt werden dürfen? Dass ihn die
Stöße, die von der seit vielen Jahren vernachlässigten, immer nur notdürftig
ausgebesserten Fahrbahn stammten und die selbst ein komfortables Auto wie das
von Hamm nicht völlig abfedern konnten, letzten Endes umgebracht hatten? Dass
das Opfer, so schwer es – von wem auch immer – verletzt worden war, noch leben
könnte, wäre nicht ein verdammter Idiot namens Bernhard Hamm auf den Gedanken
gekommen, es in diesem prekären Zustand zu transportieren. In einem ganz
normalen Auto, statt auf den Krankenwagen zu warten!
Für einen Moment sah sich Hamm zerknirscht vor einer Richterbank stehen, von wo
aus man ihn anbellte: „Was haben Sie sich in dieser Situation bloß gedacht,
Mann? WAS?!“
Aber wo war die Alternative? Natürlich hatte Hamm, wie im Erste-Hilfe-Kursus
gelernt, den Verletzten sofort auf die Seite gelegt, nachdem er ihn mit grotesk
verrenkten Gliedern auf dem Seitenstreifen zwischen zwei Begrenzungspfosten
liegen gesehen hatte. Er war derart auf die Bremse gestiegen, dass trotz
staubtrockener Straße das ABS anschlug. Danach hatte er getan, was alle in
seiner Situation getan hätten: er hatte auf dem Handy die 110 gedrückt und
gewartet. Auf Profis setzen, nicht selber dilettieren wollen, das machte
schließlich den Erfolg einer Industriegesellschaft aus, oder? Alles andere war
Dritte Welt, oder Landkommune.
Das Handy schwieg. Er nahm es vom Ohr und sah, dass keine Betreiberkennung auf
dem Display stand. Kein Netz! Hamm fiel ein, dass es hier, hinter dem Deich,
zwischen der historischen Schwebefähre und der Mündung des Flusses in den großen
Strom, auf langen Abschnitten keinen oder nur sehr schwachen Mobilfunk- Empfang
gab. Keine der Telefongesellschaften deckte den Bereich wirklich gut ab. Mehr
Stationen einzurichten als die bereits existierenden, lohnte sich für die
Versorger nicht, zu dünn war die Gegend besiedelt. Hamm fluchte auf die
profitgeilen Konzerne, die an jeden schönen alten Kirchturm ihre hässlichen
Antennen schraubten, wenn ein Geschäft zu machen war, aber die Bewohner
entlegener Landstriche kaltherzig im Tal der Ahnungslosen beließen. Dreckspack!
Was jetzt?
Auf Hilfe warten, die vielleicht zufällig kommen würde? Das konnte Stunden
dauern. Hamm kannte die schmale Straße, die parallel zum Fluss viele Kilometer
mit ihm mäanderte. An der Straße lagen Bauerhöfe, Reetdachkaten von zumeist
älteren Einheimischen und Wochenendhäuser von Städtern. Keine Kneipe, kein
Gasthof, nirgends.
Es war jetzt fast ein Uhr früh. Unwahrscheinlich, dass 8 vor sechs Uhr, wenn auf
den Höfen die Arbeit begann und bettflüchtige Zugezogene ihre Joggingrunden
begannen, jemand vorbei kommen würde. Hamm war auf sich gestellt. Er musste
etwas tun, was schon lange nicht mehr auf den Lehrplänen stand. Eine einsame,
schnelle Entscheidung fällen, ohne Zustimmung eines Teams oder Kollektivs, auf
das er sich notfalls berufen könnte. Hamm entschied, den Schwerverletzten ins
Krankenhaus der Kreisstadt zu fahren. Es hatte kaum eine Chance, aber er würde
sie nutzen.