Verratenes Dorf
Cäcilia Balandat
Leseprobe
Kapitel 1
Leise schlich sich der Mann davon. Niemand hatte ihn gesehen, niemand hatte ihn
gehört. Die Nacht schützte ihn. So war es schon für gestern geplant, nur hatte
ihm das Wetter einen Streich gespielt – es war zu gut. Der Mond schien zu hell,
keine Wolke war zu sehen. Die ganze Nacht war hell wie die Morgendämmerung.
Heute hatte das Sommerwetter einen Dämpfer bekommen. Dunkle Gewitterwolken waren
aufgezogen und hatten sich den ganzen Tag gehalten – auch in der Nacht.
Als er die Straße erreichte, beschleunigte er seine Schritte. Nun war er nicht
mehr durch Büsche und Hecken geschützt. Sollte ein Auto vorbeifahren, würde er
in einen torkelnden Gang fallen. Wenn jemand genauer hinsah, würde er für einen
spät heimkommenden Betrunkenen gehalten werden. Aber er hatte Glück. Es kam kein
Auto. Unbemerkt kehrte er zurück.
Die Stimmung im Gemeindesaal von Neuenfelde drohte überzukochen.
Nicht aus Begeisterung. Die Menge war aufgebracht.
„Hast du vergessen, wo du herkommst?“
„Schäm dich, du Verräter.“
„Dir kann es ja egal sein, was hier mit uns passiert. Du bist ja weit weg in
deinem Hannover. Da stört dich kein Fluglärm.“ „Freunde, nun macht doch mal
halblang. Seid doch vernünftig.“ Gregor Dietz, der Landtagsabgeordnete aus
Hannover, konnte seine früheren Freunde und Nachbarn nicht beruhigen. Ein
gellendes Pfeifkonzert übertönte die starken Lautsprecherboxen.
Theo Husen, der für die Einladung von Gregor Dietz verantwortlich war, hatte
seine Gesichtsfarbe eingebüßt. Seine ursprüngliche Idee, Gregor Dietz‘ Position
zu benutzen, um seiner eigenen Kandidatur für die Kommunalwahl behilflich zu
sein, kehrte sich offenbar ins Gegenteil und ging in gellenden Protestrufen
unter.
Theo Husen musste sich den Vorwurf gefallen lassen, die Reaktion der Gemeinde
auf den Ausbau der Start- und Landebahn des großen Flugzeugswerkes und die
Konsequenz auf die anstehende Wahl unterschätzt zu haben. Er drängte Gregor
Dietz sachte vom Rednerpult weg und übernahm das Mikrofon.
„Freunde, Nachbarn, Parteifreunde, nun beruhigt euch mal. Wir können alles in
Ruhe bereden. Dafür sind wir doch eure Volksvertreter.“ Die Neuenfelder kochten
jedoch vor Wut und sahen in den Männern auf dem Podium keinesfalls ihre
Vertreter. Eher ihre Verräter. Was die Bürger des kleinen Ortes aufbrachte, war
ein in Hamburg ansässiges Flugzeugwerk. Dort wurden neue Flugzeuge gefertigt.
Bisher war das Unternehmen willkommen, da es mit Abstand der größte Arbeitgeber
der Region war. Das änderte sich jedoch schnell, als die Flugzeugbauer begannen,
mit Unterstützung der Landesregierung Niedersachsens und des Hamburger Senats
Expansionspläne zu schmieden: Sie wollten ein größeres Werk für einen größeren
Flieger, der noch mehr Platz zum Starten und Landen benötigte.
Gregor Dietz stand am äußeren Rand des Podiums und beobachtete die Menschen im
Saal. Er war ein kühler Rechner. Schon als Jugendlicher hatte er erkannt, dass
er seine Fähigkeiten nicht so sehr in schulischen Leistungen suchen, sie dafür
aber umso ausgeprägter in der Menschenführung finden konnte. Mit seinem Charme
und seiner Gewandtheit konnte er nicht nur seine Mitschüler, sondern auch die
Lehrer um den Finger wickeln. Erstaunlicherweise fielen nicht nur die weiblichen
Lehrkräfte auf ihn herein, was man wegen seines Aussehens hätte verstehen
können. Die Noten auf seinen Zeugnissen fielen immer wesentlich besser aus, als
er sie sich mit seinen schulischen Leistungen verdient hatte. Der Weg in die
Politik war vorgezeichnet.
Für einen Jugendlichen ungewöhnlich, erkannte Gregor Dietz seine Bestimmung sehr
früh. Bereits als 17Jähriger begann er, sich einen Namen in der Politik zu
machen. Und heute, mit nicht ganz 30 Jahren, war er auf dem besten Weg nach
oben. Wenn nicht dieser Abend dazwischen gekommen wäre. Während er den
tumultartigen Szenen im Saal zusah, wog er seine Chancen ab, dennoch Kapital für
sich aus diesem Abend zu ziehen. Er erspähte einen Journalisten. Er kannte ihn,
so wie die meisten anderen im Saal, aus seiner Jugendzeit. Gregor Dietz war hier
aufgewachsen, seine Eltern lebten nach wie vor hier. Aber im Gegensatz zu vielen
anderen seiner Mitschüler, hatte es ihn immer schon weggezogen, raus aus der
Provinz. Er wollte den Mief des Bauernlebens hinter sich lassen. Das war ihm bis
jetzt vorzüglich gelungen. Und wenn es nach ihm ging, sollte es auch so bleiben
– trotz des Verlaufs des heutigen Abends.
Zielstrebig steuerte der Politiker auf seinen früheren Klassenkameraden und
heutigen Journalisten zu. Mit dessen Hilfe gedachte Gregor Dietz dafür zu
sorgen, dass die Berichterstattung seinen persönlichen Zielen zugutekam.